7. April 2024 Allgemeines

Das Recht auf Gesundheit – ein Interview von Cap Anamur zum Weltgesundheitstag 2024

Das diesjährige Motto des Weltgesundheitstags der WHO lautet "Meine Gesundheit, mein Recht". Durch den Bau und Betrieb von Gesundheitseinrichtungen und die Entsendung medizinischen Fachpersonals unterstützt Cap Anamur dieses Menschenrecht. Dennoch gilt es, mit kritischem Blick auf die globalen Ursachen und Fehler im System zu schauen und an langfristigen Lösungen zu arbeiten.

Cap Anamur sichert Menschen in Not das Recht auf Gesundheit

Am 7. April ruft die WHO zum Weltgesundheitstag auf. Das Jahr 2024 steht unter dem Motto „Meine Gesundheit, mein Recht“. Cap Anamur / Deutsche Not-Ärzte verfolgt dieses Menschenrecht auf Gesundheit seit seiner Gründung, indem wir in verschiedenen Projektländern Zugang zu Gesundheitseinrichtungen schaffen und die medizinische Behandlung der Bevölkerung durch entsandte medizinische Fachkräfte optimieren. Doch auch abseits von unseren Erfolgen wollen wir den Blick auf die globalen Zustände und systemischen Probleme nicht verlieren. Hierzu haben wir unserem neuen Projektkoordinator Ole Hengelbrock im Interview 10 Fragen gestellt, bei denen er einen kritischen Blick auf die internationalen Probleme und möglichen Lösungsansätze des Menschenrechts auf Gesundheit wirft:

Projektkoordinator Ole Hengelbrock gibt einen fachlichen Einblick zum Weltgesundheitstag 2024
1. Das Thema des Weltgesundheitstages ist „Recht auf Gesundheit“. Ist das ein neuer Anspruch?

Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht auf eine rechtzeitige und angemessene Gesundheitsversorgung. Dies gehört unmittelbar zum Recht auf Leben und zum Recht auf ein Leben in Würde dazu. Etwa 140 Länder erkennen in ihrer Verfassung Gesundheit als Menschenrecht an. Die WHO verfolgt als Hauptziel, „den höchsten erreichbaren Gesundheitsstandard als Grundrecht eines jeden Menschen“ zu verwirklichen.

2. Wie steht es um die Umsetzung, gibt es erfreuliche Entwicklungen?

Laut einem kürzlich erschienen Bericht der Vereinten Nationen hat die Zahl der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, einen historischen Tiefstand erreicht. Die Mortalitätsrate ist seit dem Jahr 2000 weltweit um 51 Prozent gesunken. Länder wie Kambodscha, Malawi, die Mongolei und Ruanda, sind Beispiele dafür, welche Fortschritte möglich sind, wenn entsprechende Prioritäten gesetzt und ausreichend Ressourcen für die medizinische Versorgung aufgebracht werden. Allerdings besteht kein Grund zum Feiern…

3. Wie sieht die andere Seite der Medaille aus?

Ein Blick in den Bericht zeigt, dass fast die Hälfte der Todesfälle Neugeborene mit vermeidbaren oder behandelbaren Ursachen sind, wie Schwangerschaftskomplikationen, Meningitis, Diarrhoe Malaria oder Masern.

Cap Anamur impft Menschen in Not im Zuge der Gesundheitsversorgung
4. Stichwort Masern, weltweit ist die niedrigste Durchimpfungsrate für die erste Masernimpfung seit 2008 zu verzeichnen.

Ja, und seit 2016 kam es in zehn Ländern, in denen die Ausbreitung von Masern gestoppt war, zu neuen Ausbrüchen. Dabei ist zu beachten, dass eine Infektion nicht nur die durch das Virus verursachte Erkrankung impliziert, sondern das Immunsystem generell schädigt. Bis zur Hälfte der vorhandenen Antikörper können zerstört werden. Das bedeutet eine größere Anfälligkeit für Keime, die Krankheiten wie Lungenentzündung oder Grippe verursachen. Doch wo können die etwa 4,5 Milliarden Menschen – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung – die keinen vollständigen Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten haben, in solchen Fällen hingehen? In ihrer Lebenswirklichkeit existieren zugängliche Gesundheitsdienste schlichtweg nicht, sind nur in rudimentären Ansätzen verfügbar oder gegen harte Währung selten erschwinglich.  Ich möchte das Wort „eigentlich“ vermeiden. Aber nach den sogenannten Sphere-Mindeststandards sollen mindestens 80 Prozent der Bevölkerung die medizinische Grundversorgung innerhalb einer Stunde Fußweg vom Wohnort erreichen können. Transporte für Notfallüberweisungen sollen 24/7 verfügbar sein. Ein Bezirkskrankenhaus soll es pro 250.000 Einwohner geben; nun sage ich es doch: eigentlich!

5. Wo klaffen Anspruch und Realität besonders auseinander?

Das ist schwer gegeneinander aufzuwiegen. „Alle Tränen sind salzig“, wie Janusz Korczak sagt. Aber der Blick in den Sudan, die Ukraine, nach Myanmar oder Venezuela ist verstörend. Seit neun Jahren zertrümmern Bomben die medizinische Infrastruktur im Jemen, gleichzeitig steigen die Preise für Nahrungsmittel, Wasser und Benzin um 600 Prozent. Wasserpumpen können nicht in Betrieb gehen, sodass Krankheiten wie Cholera epidemisch aufflammen. Auch in Syrien treten Infektionswellen aufgrund der stetigen Verarmung der Bevölkerung, des maroden Gesundheitssystems, der zerstörten Abwassersysteme und der desaströsen hygienischen Verhältnisse immer wieder auf. Dies ist auch eine Folge der Sanktionspolitik, die nicht zielgenau auf bestimmte Gruppen oder Personen wirkt, sondern die Zivilbevölkerung in pauschale Geiselhaft nimmt. Im Tigray-Konflikt in Äthiopien sind Menschen durch direkte Gewalteinflüsse, aber gerade auch durch die Folgen von Hunger und fehlender Gesundheitsversorgung ums Leben gekommen.

Kriege haben desaströsen Interdependenzen: Vertreibung, überfüllte und unangemessene Unterkünfte, schlechte sanitäre Einrichtungen, unzureichende Wassermengen und -qualität sowie eine geringere Ernährungssicherheit sind Faktoren, die das Risiko von Unterernährung und Ausbrüchen übertragbarer Krankheiten erhöhen. Zudem gefährden extreme Stressfaktoren, wie Verlust- und Gewalterfahrungen, die mentale Gesundheit. Eine unterbrochene Medikamentenversorgung stoppt laufende Behandlungen von HIV, Tuberkulose, Diabetes und psychischen Erkrankungen. Wer dem Recht auf Gesundheit im großen Maßstab besser entsprechen möchte, muss vor allem an Konflikten und ihrer Beendigung arbeiten.

Cap Anamur baut und betreibt international Krankenhäuser in Krisengebieten
6. Wie sieht die Situation in Ländern aus, die sich nicht im Krieg befinden?

Ein weitläufiges Problem mit häufig tödlicher Konsequenz ist die späte Behandlung. Viele Patienten kommen erst nach einer langen Odyssee in höchst kritischen Zuständen im Krankenhaus an. Entweder, es ist der schwierige Transportweg, wenn etwa Regenzeiten die Straßen unterspülen oder volatile Gewaltakteure, die Routen unpassierbar machen. Ein anderer Grund für das späte Eintreffen sind die befürchteten Kosten. Neben dem Transport müssen der mehrtägige Aufenthalt im Krankenhaus, der Arbeitskraftverlust auf dem Markt bzw. Feld, die Behandlungen, Medikamente und Blutreserven gestemmt werden. Dafür springen keine Versicherungen ein und nur in seltenen Fällen stehen eigene finanzielle Rücklagen zur Verfügung. In Sierra Leone sind Bluttransfusionen nur möglich, wenn dafür ein Angehöriger Blut als Reserve spendet. Ein Beutel für einen Beutel. Täglich wiederholt sich die Szene, in der Angehörige, die bereits gespendet haben, vor der Klinik mit Personen verhandeln, um weitere Transfusionen gegen Cash zu ermöglichen. Gesundheit ist ein Wert. Wenn dieser an Schulden geknüpft ist, bedeutet das für Menschen in vielen Weltregionen nicht bloß finanzielle Einbußen, sondern existentielle Bedrohungen. Die Sorge vor Verschuldung lässt die Menschen mitunter so lange wie möglich zögern. Und manchmal fehlen schlichtweg die Mittel, um überhaupt über die Fahrt ins Krankenhaus oder die zweite Bluttransfusion abwägen zu können.

7. Wer trägt die Verantwortung das zu ändern?

Für mich scheitert der Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip, nachdem zuvorderst der Staat für den Schutz und die Versorgung der Bevölkerung zu sorgen hat, an den etablierten Machtstrukturen vor Ort, die sich mitunter am Ressourcenreichtum des Landes bereichern, ohne das soziale Sicherungssystem und die medizinische Infrastruktur auszubauen. Wer nun meint „Selbst schuld, dann können sie sich ja selbst helfen“, dem möchte ich entgegenhalten: Erstens wird es für die Bevölkerungen in vielen Weltregionen schwieriger, für Rechte einzustehen. Nur zwei Prozent der Weltbevölkerung leben in Staaten mit uneingeschränkten zivilgesellschaftlichen Freiheiten, mehr als zwei Drittel hingegen in autoritären Staaten oder Diktaturen. Der Handlungsspielraum für Rechtsansprüche ist beschnitten. Zweitens geht der Fingerzeig auf die Machthabenden vor Ort unweigerlich mit dem Rohstoffraub und der Übervorteilung durch Handelsverträge mit westlichen Staaten einher.

8. Bitte führe das weiter aus, ein Beispiel?

Der post-koloniale Diskurs gehört dazu, wenn wir über Verantwortung sprechen. Während 56 französische Kernkraftwerke Atomstrom exportieren und Steuern für das Gemeinwohl in die Staatskassen spülen, sind der Weltbank zufolge 81,4 Prozent der nigrischen Bevölkerung vom Stromnetz ausgeschlossen. Dabei stammen etwa ein Drittel der französischen und ein Viertel der europäischen Uranimporte aus Niger, dem siebtgrößten Uranproduzenten der Welt. Das sind Ausbeutungsdynamiken, die durch staatliche Hilfsgelder verdeckt und deren Folgen wenn überhaupt nur kleinsteilig abgemildert werden. Viel wäre gewonnen, wenn sich ungerechte Klauseln in Wirtschaftsabkommen und intransparente Handelsbeziehungen fairer gestalten. Auch das Problem des „brain drains“ ist kritisch, die Abwerbung von Fachkräften aus Ländern des globalen Südens, mit denen Industriestaaten versuchen, die eigenen Versorgungslücken zu schließen. In den vergangenen Jahren hat die Einstellung von internationalem Personal im Gesundheitswesen deutlich zugenommen. In Deutschland fehlen bis zum Jahr 2025 bis zu 150.000 Krankenpfleger/innen. Industriestaaten bezeichnen sich gerne als „Geber“ aufgrund ihrer internationalen Hilfszahlungen, doch zunächst einmal sind wir „Nehmer“.

Cap Anamur steht für das internationale Menschenrecht auf Gesundheit ein.
9. Wie verhält es sich mit dem „Geben“, um das Hauptziel, „den höchsten erreichbaren Gesundheitsstandard als Grundrecht eines jeden Menschen“ zu verwirklichen?

In der Finanzierung der WHO liegt die Stolperfalle namens Abhängigkeit. Zwar gibt es staatliche Pflichtbeiträge, die nach dem Bruttosozialprodukt und der wirtschaftlichen Lage des jeweiligen Landes berechnet werden – Deutschland zahlte in den Jahren 2022 und 2023 58 Millionen US-Dollar. Doch größtenteils wird das WHO-Budget durch freiwillige Beiträge getragen, mitunter fünfmal so hoch wie die Pflichtabgaben und zumeist zweckgebunden. Diese Gelder sind für ein spezifisches Thema oder eine ausgewählte Region vorbestimmt. Im vergangenen Jahr konnten weniger als ein Fünftel der Finanzmittel autonom verausgabt werden. Die Finanzierer definieren maßgeblich, was höchst erreichbar ist und welche Gesundheitsstandards wann, wo, auf welche Art und Weise zum Grundrecht gehört. Im Übrigen sinken Deutschlands Beiträge wieder. Auch andere Mitgliedsstaaten reduzieren, zahlen die Pflichtabgaben unregelmäßig oder überhaupt nicht, was zu Unplanbarkeit und Kürzungen führt. Die Angelegenheiten der WHO können aufgrund der institutionellen Finanzierungskrise nur eingeschränkt erledigt werden.

10. Zum Ausblick, was sollte und kann getan werden für das Recht auf Gesundheit?

Nun, Ausgabenziele sind aktuell beliebt. Das EU-Ausgabenziel von 0,25 Prozent des BIPs für die Ukraine wird als „sympathisch“ bezeichnet. Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato, ursprünglich eine frei gesetzte Zielmarke, ist in Stein gemeißelt und wird mit Sondervermögen unterfüttert. Staaten sollen 0,7 Prozent für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe verausgaben. Deutschland erfüllt dieses Ziel nur aufgrund einer höchst fragwürdigen Berechnungsgrundlage, in der etwa interne Unterbringungskosten für geflüchtete Personen oder Studienplatzkosten für Menschen aus dem globalen Süden eingerechnet werden. Durch diesen Rechentrick ist Deutschland zum größten Empfängerland seiner eigenen Hilfsmittel geworden, rund 6,3 Milliarden US-Dollar bleiben in der Bundesrepublik. Vielleicht bringt endlich jemand ein fest verankertes Ausgabenziel für die Pflichtbeiträge ins Spiel. Dann könnten zumindest unabhängigere Entscheidungen getroffen werden. Ein anderer Schritt ist, stärker an Konflikten und ihrer Beendigung zu arbeiten. Das legitimiert keineswegs Aufrüstungsspiralen, wie der aktuelle Jargon vermuten lässt, da mehr Militarisierung nachweislich zu Lasten anderer Themen wie Gesundheit und Soziales geht, wie ein Abgleich mit dem „Global Health Security Index“ zeigt. Auch die Handelsabkommen müssen in Zukunft gerechter verhandelt werden; da steckt doch das Wort „Recht“ drin.

Was auch passiert oder eben ausbleibt, es wird immer Nischen und Situationen des Staatszerfalls geben, in denen sich zivilgesellschaftliche Akteure wie Cap Anamur konkret und tatkräftig einbringen müssen, um eine Gesundheitsversorgung zu verwirklichen, die verfügbar, zugänglich, akzeptabel, erschwinglich und von guter Qualität ist. Diese Aufgabe wird leider nicht aufhören! Allerdings ist diese Arbeit keineswegs „normal“. Die Notwendigkeit in Kriegen und Krisenkontexten zu arbeiten, also humanitäre Hilfe leisten zu müssen, ist kein Ersatz für Politik und Rechtsregime, sondern Anzeichen für deren Scheitern. Wenn dann noch Unfähigkeit oder gar Unwille dazukommen, bedarfsgerecht zu helfen (dazu zählt auch das Abwerfen von Hilfsgütern aus Flugzeugen), ist das letztlich Ausdruck für den Zusammenbruch der Rechte. Von diesem Tiefstand aus blicken die betroffenen Menschen auf das Grundrecht Gesundheit. Wir sollten nicht verlernen, uns an diesen Umständen zu stören!

Mit Ihrer Spende helfen Sie Cap Anamur dabei, Menschen in Not das Grundrecht aus gesundheitliche Versorgung zu sichern!